Jahrelang fuhr ich mit der Gondelbahn den Berg hoch und schaute immer nach rechts, wo ich jeweils auf halber Höhe das kleine Bergdorf erspähte. Dort, am Ende des Dorfes, das Haus. Es war ein Ritual, dieses Haus jeweils zu grüssen, aus der Gondel heraus. Das Haus, in dem meine Grossmutter Anna aufwuchs. Meine Lieblingsoma, die als junges Mädchen die Auswahl an heiratswilligen Männern in ihrer Umgebung zu uninteressant fand und darauf einen Mann aus dem Mittelland heiratete und ihm nach Luzern folgte. Meine Oma, die mit blauen, schalkig-blitzenden Augen noch in hohem Alter jederzeit zum Pferdestehlen bereit war.
Wir schwebten immer in einiger Entfernung am Bergdorf vorbei, nicht ein einziges Mal in meiner ganzen Kindheit war ich dort, nur geschaut aus der Gondel heraus. Das Haus gehörte inzwischen "Fremden" und der direkte Bezug fehlte, um dort einmal anzuklopfen. Wir fuhren immer mit der Gondel bis ganz hoch, auf die Alp, wo meine Oma damals das Maiensäss erbte und später zu einem Ferienchalet umbaute. Die Alp wurde im Verlaufe der Zeit ein Skiort und wir fuhren je länger je mehr nur noch im Winter zum Skifahren hoch.
Das Ritual, auf halber Höhe ihr Heimathaus zu begrüssen, aus der Gondel heraus, blieb. Meine Oma erzählte mir auf meine Bitten hin immer wieder Geschichten aus ihrer Kindheit. Am meisten liebte ich es, wenn sie mir von ihrem Papa erzählte. Elias. Er muss ein bemerkenswerter Mensch gewesen sein. Ein Walliser Bergbauer mit leuchtenden, lazulithblauen Augen, der immer heiterer Stimmung war, der warm liebend und hell lachend die Anforderungen seines Lebens meisterte. Ein tiefgläubiger Mensch, der sonntags Organist in zwei verschiedenen Kirchgemeinden war. Und nebenbei hat er geholfen, eine grosse, exotische Villa hoch oben auf der Alp zu bauen, an schönster Lage, die ein englischer Finanzberater der königlichen Familie sich wünschte. Zu Fuss und mit Eseln hat er, zusammen mit anderen Bergbauern, das Baumaterial hochgetragen. Wochen- und monatelang. Später hat er sogar Winston Churchill den Berg hochbegleitet.
Elias. Und seine Frau Elisa.
Elias uns Elisa, meine Urgrosseltern. Sie haben das Haus belebt mit ihren sechs Kindern. Mit dabei im oberen Stock war Elias' Bruder Robert mit seiner Familie. Und im untern Stock der Bruder Auxilius und dessen Familie. Ein lebendiges Familienhaus war es, reich an Kindern. Reich an Leben, reich an Arbeit.
Die Zeiten gingen vorbei und es kam immer mehr Ruhe in das Haus. In den vergangenen Jahren wurde es stiller und stiller, bis es fast ganz verstummte.
Da entdeckte ich es im Internet, ausgeschrieben zum Verkauf. Es war Zu-Fall. Niemand aus meiner Familie wusste etwas über den Verkauf, planlos suchte ich unspezifisch im Internet nach Alphütten. Christian und ich hatten schon länger im Hinterkopf den Wunsch, eine Alphütte zu haben. Irgendwo, irgendwas. Und plötzlich tauchten im Netz die Fotos eines mir so lieb bekannten Hauses auf, das ich aber noch nie betreten habe. Ich schnappte nach Luft, mein Herz machte einen Sprung bis in den Hals. Ich grüsste still das Haus und hatte das Gefühl, es grüsse mich zurück. Kann es sein, dass dieses Haus schon immer mit mir in Verbindung war, dass es auf mich wartete, bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist? Wie kitschig es auch klingen mag, es fühlte sich für mich so an. Das Schicksal des Hauses ist mit meinem verknüpft, mit Christian's und meinen Kindern...
Wir brauchten dennoch längere Zeit, mehrere schlafarme Nächte und Gespräche, bis wir uns definitiv zum Kauf entscheiden konnten. Fast zwei Jahre dauerte es, bis Christian und ich gemeinsam, beide unabhängig voneinander, aus voller Überzeugung zu unserem neuen Abenteuer ja sagen konnten. Vor 10 Tagen war der herbei ersehnte Moment da, wir unterschrieben beim Notar und somit kam das Heimathaus meiner Grossmutter wieder in unsere Familie. Die Familiengeschichte darf in diesen Wänden weiter gehen.
Das Haus, es soll ein Ferienhaus für uns werden, gibt uns im Moment viel Arbeit, denn es muss erstmals geräumt und ausgemistet werden. Es ist ein Dreifamilienhaus, je nach Stockwerk sieht es drinnen ganz anders aus. Von ganz alt und authentisch im ersten Stock, zum 70er Stil verbaut im zweiten und auch die achtziger Jahre im dritten Stock sind vertreten. Vorherige Besitzer haben teils ihren ganzen Ramsch uns überlassen. Bis zum Zahnbürstchen und zur Nagelschere. Wir mussten sogar den Kühlschrank erst von Essensresten reinigen und die gut gebrauchte, miefende Bettwäsche abziehen...
Wir haben auf gefundenen, sauber ausschauenden Matratzen und in Schlafsäcken die erste Zeit im Wohnzimmer campiert. Wir haben jedes einzelne Zimmer im Haus durch gesichtet und die schönen, alten Sachen behalten, doch in einer Woche haben zwei Mulden mit ungewolltem "Hausrat" gefüllt und das Ende ist noch nicht da... Es sieht aber schon ordentlicher und überschaubarer aus. Wir sind auch in der Planung der Renovation. Wir lassen uns nun Zeit, das Haus wieder im alten Kleid aber mit modernen, zeitgemässen Eingriffen hübsch und bewohnbar zu machen. Es soll nach uns riechen.
Wir werden nun an unserer Vision arbeiten, hier ein Auszeit-Familiennest zu bauen. Für uns, für unsere grössere Familie, für Freunde. Wir wünschen uns, hier einen Ferienort zu schaffen, der Raum gibt fürs Sein. Gemeinsam. Denn hier laufen die Uhren langsamer. Hier ist die Luft glasklar und das Wasser gletscherkühl und energetisierend. Die Wiese voller ätherischen Düfte und die Nacht legt sich sternenhell über die Berge.
Herzliche Grüsse von Iren, die nun kurz wieder Zuhause ist, bis in einer Woche nochmals ein Bergwochenende geplant ist. Die Wiesen müssen fertig gemäht werden und die Heidelbeeren sind reif...