Freitag, 18. Februar 2011

Der Spitalaufenthalt - mein Wochenbett

Ich werde nie vergessen, wie mich Sophia ins Spital fuhr. Im Dunkeln fanden wir die Beschilderung nicht und kamen von hinten zum Gebäude. Es gab keine Strasse, nur einen Fussweg. Nach kurzem Zögern bog Sophia mit dem Auto in diesen Fussweg ein. Zuerst wurde es uns etwas bange, dann mussten wir lachen. Es war zu komisch, diese ganze Situation. Und irgendwie so passend. Wir nahmen nicht die abgefahrene Strasse, sondern kamen vom offiziellen Weg ab.

Aus der Geborgenheit einer Heimgeburt traten wir ins Neonlicht. Die Schiebetür ging auf und die Spitalluft wehte uns entgegen. Lange, nackte Korridore, grosse Bettenlifte, Untersuchungszimmer. Beklommen legte ich Calista auf den Wickeltisch, damit sie von einer jungen Ärztin genauer angeschaut werden konnte. Sie schwieg. Sie sagte, sie könne nichts sagen, sie müsse eine Blutentnahme machen. Sophia ging, Christian kam. Calista wurde auf die Neonatologie gebracht. Mit vielen Kabeln haben sie Calista an die Monitoren angeschlossen, damit ihre Atmung und die Sauerstoffsättigung permanent kontrolliert werden konnte. Eine Infusion wurde ihr gelegt. Ich blickte traurig auf mein kleines, zartes Wesen, wie es da lag, umgeben von Schläuchen. Ich war erschöpft von der Freinacht, von der Geburt und von den Geschehnissen des Tages. Wir hatten noch ein kurzes Gespräch mit den Ärzten die uns sagten, dass Calista ziemlich sicher Trisomie habe. Das war uns aber bereits schon sehr bewusst. Des weiteren habe sie dickes Blut, d.h. sie habe sehr viele rote Blutkörperchen und deshalb sei sie am Nachmittag so schnell blau geworden. Warum sie sich verschluckte, sei wahrscheinlich auf die Trisomie zurück zu führen. Sie werde nun per Infusion Flüssigkeitszufuhr kriegen, die ihr Blut wieder normalisiere. Das sei nicht weiter schlimm, komme bei Neugeborenen immer wieder mal vor.
Es war spät, ich musste schlafen gehen und legte mich ins Bett meines neuen Zimmers auf der Wochenbettstation, welche in einem anderen Gebäude war. Christian fuhr wieder nach Hause. Die erste Nacht nach der Geburt lagen wir alle zertreut in anderen Betten. Christian mit den zwei grossen Mädchen zu Hause, ich auf der Wochenbettstation und Calista auf der Neonatologie. Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich wahrscheinlich die ganze Nacht geheult.

Am nächsten Tag folgten wegen des schweren Trisomieverdachts weitere Organuntersuchungen. Auch haben sie auf dem Herzen etwas gehört, das auf einen Herzfehler hindeutete. Wir blieben immer noch gelassen, weil wir etwas Kleines, wie ein Löchlein in der Trennwand, erwarteten. Schliesslich haben wir in der 20.SSW ein Organ-Screening gemacht und der Arzt sagte, dass alles tiptop in Ordnung sei, das Herz und sonst alles gut aussehe. 
Christian kam mit Cosima und Thalia, sie durften ihre Schwester sehen und hüpften im Spital herum. Eine Freundin, die nebenberuflich Astrologin ist und 10 Tage vor mir einen Sohn geboren hatte, wollte die genauen Geburtsdaten wissen. Sie schrieb mir dann per SMS, dass ich ein sehr, sehr starkes Mädchen geboren habe, denn sie sei sowohl im Sternzeichen wie auch im Aszendent Steinbock, zudem habe sie noch fünf weitere Planeten im Steinbock. Was dies alles heisst, wusste ich nicht. Ich merkte mir den Satz: Du hast ein sehr starkes Mädchen geboren.

Am Freitag, den 15. Januar gab es eine grosse kardiologische Untersuchung mit anschliessender Besprechung. Ich war froh, denn ich hoffte sehr, Calista fürs Wochenende wieder zu Hause haben zu können. Ich wollte endlich wieder mein Baby haben, in meinem Bett liegen und das Wochenbett geniessen. Die Ärztin hatte zwei weisse Blätter vor uns liegen. Auf dem einen zeichnete sie ein gesundes Herz, auf dem andern das Herz von Calista. Ich starrte auf das Blatt und meine Augen füllten und überfüllten sich mit Tränen. Vielen Tränen. Was die Ärztin uns mit ruhiger Stimme sagte und was sie uns an massiven Herzfehlern aufzeigte, war für uns unendlich schmerzhaft. Calista hatte nebst einer unterentwickelten linken Herzkammer einen kompletten AV-Kanal, einen Herzklappenfehler sowie einen Duktus. Christian und ich hielten uns die Hand und weinten unaufhörlich. Wir sassen da, hörten den Stimmen zu und in meine Augen brannte sich die Zeichnung von Calistas Herz ein, während es in meinem Kopf hämmerte: Nein, nein, nein!!

Was jetzt, wie weiter? Sie sprachen von Abwarten, von weiteren Untersuchungen, von eventuell baldiger kleiner Operation, von Medikamenten, von einer grossen Operation. Sie sprachen von Verlegung auf die Intensivstation des Kinderspitals. Ich ging hinüber zu Calista, nahm sie in meine Arme und schluchzte. Mein kleiner Engelchen. Ich darf sie nicht nach Hause nehmen, mein Herz schien zu zerreissen. Eine halbe Stunde später kam die Ambulanz und sie wurde in einen Wagen gelegt, der rundum mit Plexiglas zu war, und mit Schläuchen wieder angeschlossen. Durch zwei runde Öffnungen konnte ich nochmals meine Hände zu ihr hinstrecken und sie zum Abschied über den Kopf streicheln. Danach fuhren sie mit ihr weg ins Kinderspital auf die Intensivstation. Ich schaute ihnen hinter her und mein Herz schrie: Nehmt mir nicht mein Baby!
Alles ging schnell, vom Gespräch mit den Ärzten bis zur Abfahrt verging vielleicht knapp eine Stunde. Irgendwie kam ich nicht nach und gleichzeitig musste ich funktionieren. Wir hatten ja noch zwei Mädchen zu Hause, die auch sehr verunsichert waren und uns brauchten. Ich wollte tapfer sein. Christian kam mit mir ins andere Gebäude aufs Wochenbett, wir packten meine Sachen und fuhren ins Kinderspital. 

Die Intensivstation der Kardiologie hatte andere Regeln. Man musste an der Tür klingeln und warten, bis man abgeholt wurde, Hände waschen, desinfizieren und falls nicht ganz gesund musste man einen Mundschutz tragen. Die Geschwister hatten kein Besuchsrecht. Ungeduldig durchliefen wir das Prozedere, ich wäre am Liebsten einfach nur hinein gerannt: Wo ist Calista, wie geht es ihr?!
Sie lag in ihrem neuen Bettchen, wieder an Schläuchen angeschlossen und sie schlief friedlich. Ich war beruhigt; im Zimmer war es ruhig. Die Monitoren piepsten, die Pflegerinnen liefen auf geräuschlosen Sohlen. Es waren noch zwei andere Babies im Raum. Eines atmete schwer. Wir waren nicht alleine mit unserem Schicksal. Das tat irgendwie gut.



Es brach nun eine Zeit an, in der alles wie ein Erdbeben durchgeschüttelt wurde, was bisher in Ordnung war. Ich konnte die ersten Tage kaum aufhören zu heulen. Die Tränen flossen haltlos aus mir heraus. Stand ich vor der IPS-Tür und klingelte, versiegten die Tränen und ich freute mich riesig, Calista bald in meinen Armen zu halten. Ich konnte morgens 2h und abends 2h bei ihr sein, das war für mich viel zu wenig, doch es ging nicht mehr. Cosima und Thalia brauchten mich auch sehr, sie waren sehr traurig darüber, dass Calista im Spital war und sie sie nicht sehen konnten. Sie waren auch sehr verunsichert, weil sie uns noch nie so erschüttert erlebt haben. Zudem musste ich mich nachmittags konsequent hinlegen, ich hatte ja erst gerade geboren und sollte dringend ruhen. 

Calista hingegen ging es immer sehr gut. Sie strahlte Ruhe und Zufriedenheit aus. Das gab mir grossen Trost und nach einigen Tagen sagte ich mir: "Hör Du nun auf mit dem Jammern. Calista ist so tapfer und zufrieden und du heulst nur. Du musst sie stärken mit Zuversicht und Glaube an sie." Und ich staunte selbst, wie schnell ich diesen Schalter umknipsen konnte. Meine Erfahrung der Mutterschaft war bisher eine ganz natürliche: Meine Babies kamen nach der Geburt in meine Arme und dort blieben sie auch. Ich stillte sie nach Bedarf, sie schliefen im Bett neben mir und tagsüber trug ich sie meistens auf mir. Ich konnte 24h am Tag Liebe und Geborgenheit geben. Bei Calista war das ganz anders. Von 24h konnte ich nur 4h bei ihr sein. Ich habe zwar immer Muttermilch abgepumpt, doch wenn ich nicht bei ihr sein konnte, bekam sie die Milch aus der Flasche. Sie wurde von vielen fremden Leuten angefasst, untersucht, getragen, gebadet und gewickelt. Das wollte mein Mutterherz nicht. Aber Calista lehrte mich eine neue Art von Mutterschaft. Eine Mutterschaft, die Geborgenheit durch Vertrauen gab. Ich wollte ihr eine gute Mutter sein, indem ich nicht mehr die ganze Zeit weinte, sondern mutig war, an sie glaubte und ihr Vertrauen schenkte. Ich wollte ihr das Gefühl geben, dass sie genau so, wie sie ist, für uns perfekt ist. 



Christian hat nach ein paar Tagen die Situation schön zusammengefasst. Er sagte, dass wir ja überhaupt keinen Verlust haben, wir haben zu dem, was wir bereits hatten, noch etwas Neues dazu bekommen. Anders als wir es uns vorstellten, doch es ist dennoch einen Gewinn.

Ich hatte das grosse Glück, dass ich in meiner Nachbarschaft eine ganze Truppe von "Engelsmütter" hatte, die mir jeden Tag abwechslungsweise ein gekochtes Essen vor die Tür legten. Sie nahmen sehr viel Anteil und stärken mich moralisch. Das tat sehr gut, sowohl das feine Essen wie auch die Anteilnahme. Die Nachbarn im Haus übernahmen jeden Abend das Babyphone, so dass wir ins Spital fahren konnten, wenn die Kinder schliefen. Wir hatten unglaublich viel Glück erfahren dürfen und es stärkte mich sehr und gab ein Gefühl, getragen zu werden. Ihnen bin ich bis heute unendlich dankbar für diese Unterstützung.

Mein Wochenbett musste ich streng durchplanen, damit ich allen Anforderungen und Bedürfnissen gerecht werden konnte. Ich staunte, über welche Kräfte ich verfügte. Und trotz des gesundheitlichen Befundes unserer kleinen Calista war ich auch sehr glücklich und dankbar. - Ich staunte über die Hilfe, die ich von allen Seiten bekam, ich war unglaublich dankbar für die Spitzenmedizin im Spital und am Wichtigsten für mich war die süsse kleine Calista, die alles so ruhig und gelassen hinnahm: Wie ein Engel schlief, zufrieden und wach um sich guckte, sich nie beklagte, sondern in ihrem ruhigen Wesen alles abwartete, gut an der Brust trank und einfach zum Knuddeln und ganz fest Liebhaben war. Sie gab mir unglaublich viel Kraft und Zuversicht.





Die Ärzte warteten auf der IPS, bis ihr Lungendruck abfiel und ihr Herzchen insuffizient wurde. Als ihr Herzchen an diesen Punkt gekommen war, wurde die Situation nochmals beurteilt und entschieden, dass sie keine erste OP brauche und mit Medikamenten eingestellt werden konnte. Sie brauchte diese als "Überbrückung" bis zu ihrer grossen Herz-OP mit ca. 4 Monaten. 


Nach einer Woche IPS kam Calista auf die Neonatologie und dort wurden ihr die Medikamente eingestellt. Die Geschwister hatten wegen der Schweinegrippe immer noch kein regelmässiges Besuchsrecht. Nach zwei Wochen konnten wir Calista einmal ins Elternzimmer nehmen und Cosima und Thalia durften endlich wieder einmal ihr Schwesterchen in den Armen halten. Welch eine Freude!


Ein paar Tage bevor wir Calista endich wieder zu uns in die Familie holen konnten, kam noch der letze Schock. Calista nahm nicht mehr zu, wegen den Medikamenten. So wurde zuerst die abgepumpte Muttermilch mit extra Kalorien angereichert, als dies auch nicht den erwünschten Erfolg brachte und sie auch nicht die geforderte Menge an Milch trank, wurde ihr eine Ernährungssonde durch die Nase in den Magen gelegt. Da war er nun, der kleine, dünne Schlauch der ihr mitten ins Gesicht auf die Backe geklebt wurde und dort bleiben musste. Wir wurden eingeführt in die Handhabung dieser Nasensonde, ich kriegte einen Plan, wann wir ihr welche Medikamente geben mussten und wieviel sie pro Tag von dieser angereicherten Milch zu trinken hatte, resp. sondieren mussten. Ich durfte nur noch zweimal pro Tag stillen. 


Auch das lernte ich zu akzeptieren. Für mich gab es nur noch eines: Ich wollte endlich mein Baby wieder haben, meine Geduld war am Ende. Ich wollte Calista nach Hause nehmen.

Über drei Wochen nach ihrer Geburt war unsere Familie wieder komplett. Für mich als Mutter gab es nichts Schöneres. Nasensonde? Egal. Herzfehler? Egal. Down Syndrom? Egal. Hauptsache war, dass ich mein Baby wieder jederzeit in meinen Armen halten durfte, dass ich wieder rund um die Uhr ihre Mama sein durfte, sie tragen, streicheln, küssen und wiegen konnte. Sie kam als Patientin nach Hause und wir wussten, in ein paar Monaten muss sie für die grosse Operation wieder ins Spital. Doch für uns zählte nur noch den Moment und wir waren unglaublich glücklich.

Cosima bastelte ihr eine Krone

Am 13. Januar ist unsere dritte Prinzessin zur Welt gekommen und einen Monat vorher, am 13.Dezember, an meinem Geburtstag, haben wir ihren vollen Namen gefunden: Calista ist griechischen Ursprungs und bedeutet "die Schönste", Attiya ist arabisch und bedeutet "Geschenk des Himmels", frei auf deutsch: "Das schönste Geschenk des Himmels"!

1 Kommentar:

  1. oh Iren, mir fehlen zwar die Worte, möchte dir aber trotzdem sagen, dass ich deine Berichte über Calistas Geburt gelesen habe, so ehrlich, so liebevoll, ich bin sehr gerührt gerade.

    AntwortenLöschen