Ich sehe noch keine Be-Hinderung, wirklich nicht. ... Sie ist auf eine schöne Art und Weise anders, aber in nichts be-hindert.
Diese Worte schrieb ich kürzlich im Post heute wird Calista zwei Jahre alt. Vielleicht haben die einen oder anderen kurz gestockt beim Lesen und gedacht, dass ich als betroffene Mutter nicht genau hinschauen will, nicht wahrhaben will, was Sache ist. Gerne möchte ich meine Gedanken und Gefühle dazu ausführlicher niederschreiben. Denn ihr könnt euch sicher vorstellen, dass ich seit der Geburt von Calista sensibel geworden bin auf dieses Wort "behindert".
Calista gilt offiziell als behindert, seit dem Moment an, als man bei ihr die Trisomie 21 festgestellt hat. Da liegt so ein kleines süßes Baby, unschuldig, unberührt und verletzlich, das gerade eben zur Welt kam. Ein Baby voller Lebenswille, Lebensdrang und Neugier - und päng! - bekommt es von einer Minute auf die andere diesen Stempel aufgedrückt. Wie ein Brandzeichen bei Tieren. Mir hat's das Herz abgedrückt. Was ist an diesem kleinen Babylein behindert? Da ist noch keine Behinderung, da ist erstmal ein kleines Baby mit dem Bedürfnis, gehalten, getragen, geliebt, genährt und gewärmt zu werden. Vielleicht sind da noch medizinische Probleme (Calista hatte einen Herzfehler), so wie andere Kinder das auch haben können. Trisomie 21 bedeutet eine Verdreifachung anstatt Verdoppelung auf dem 21. Chromosomen, was dann 47 und nicht üblicherweise 46 Chromosomen ergibt. Aber viel mehr ist da anfangs noch nicht. Noch sind sie einfach Baby, einfach Kleinkind. Ein bisschen anders, ein bisschen entwicklungsverzögerter, aber süße Babies, süße Kleinkinder. Sie behindern niemanden, sie fühlen sich selbst auch nicht behindert.
Calista ist mit ihren zwei Jahren in gewissen Dingen wie Sprache, Wachstum (ein bisschen) und gewissen Fertigkeiten entwicklungsverzögert, aber nicht be-hindert. Nein, nichts hindert sie die Welt zu erkunden und die Fähigkeiten zu erlernen, die sie dazu braucht.
Ich stehe mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität und weiß genau, welche Diagnose Calista bekommen hat und was das alles bedeutet und noch bedeuten kann. Ich weiß, dass eine Schere aufgehen wird, dass der Unterschied mit fortschreitendem Alter immer sichtbarer wird. Aber wie stark sie sich öffnet, die Schere, dass ist sehr unterschiedlich und hängt von ganz verschiedenen Faktoren ab, nicht zuletzt auch von der Umwelt.
Jedes Kind ist anders, auch bei Down Syndrom. Hinter jedem dieser Menschen steht eine eigene Persönlichkeit. Calista hat vor allem unsere Gene, sie ist aus unserem Fleisch und Blut und gleicht ihren Schwestern. In erster Linie hat sie ihren Charakter, erst dann das Down Syndrom. Ich wehre mich, Calista deswegen pauschal in die Schablone "behindert" zu drücken.
Wenn ich sage, dass ich bei Calista noch keine Behinderung sehe, drücke ich damit meine Haltung aus, dass ich nichts vorweg nehmen will. Ich weiss nicht wie Calista sich entwickeln wird, wo ihre Stärken und Schwächen sind, wo sie an ihre Grenzen stoßen wird. Deshalb will ich alles offen lassen. The sky is the limit. Ich will möglichst vorbehaltlos Calista sehen und sie soll mir zeigen, welcher Mensch sie ist. Ich will nicht in den themenspezifischen Büchern und Artikeln lesen, wie Calista sich entwickeln wird, wie ihr Leben später möglicherweise aussieht. Da kriegt man automatisch eine Defizit-Brille mit grauen Gläsern aufgesetzt und mit dieser betrachtet man dann sein eigenes Kind, welches bei der Geburt dieses Brandzeichen "behindert" aufgedrückt bekam.
Seit bald einem Jahr kann ich Calista täglich mehrmals aufs WC setzen (nachzulesen bei "sauber werden") und sie kann ganz bewusst Pipi machen. Das hätte ich in keinem Buch über Down Syndrom nachlesen können. Nein, dort heißt es nur, dass sie sehr spät trocken werden. Muss nicht sein. Jedes Kind ist anders und man soll jedem Kind von Anfang an die gleichen Chancen geben.
Weil Calista grobmotorisch gut unterwegs ist, gehe ich seit zwei Wochen mit ihr in einen Akrobatikkurs für Kleinkinder. Die Kursleiterin ist voller Fantasie und Ideen und führt die Kinder auf spielerische Art an akrobatische Fertigkeiten heran. Calista macht voller Freude ungehindert mit, fügt sie sozial gut ein und hat großen Spaß. Sie ist von ihrem Wesen her anders als die anderen, fröhlicher, aufgestellter und manchmal scheint sie etwas verträumter, doch sie ist in keiner Weise "behindert".
Nein, ich will nichts vorwegnehmen. Ich will kein Brandzeichen auf Calista sehen.
The sky is the limit. Mit beiden Beinen auf dem Boden, strecke ich meine Kopf zu den Sternen. Ich schaue hinauf in den Himmel, in das unendliche, tiefe Blau, und warte, was kommt. Calista wird uns führen, sie wird uns lehren und wir unterstützen sie dabei, so, wie wir es vermögen.
PS: Letztes Jahr, während den Kinderzirkus-Aufführungen, machte in einer Gruppe ein Junge mit Down Syndrom ganz toll mit. Cosima sass unter den Zuschauern neben einem älteren Nachbarsjunge. Dieser beugte sich zu Cosima und meinte: Schau mal, der da ist behindert. Und Cosima flüsterte zurück: Nein, er hat Trisomie.