Freitag, 3. Februar 2017

Bäume - die ältesten Lebewesen

Es hat mich schon immer beelendet, wenn ich geschnittene Bäume sah. Wenn stolze, stämmige Riesen gefällt am Boden liegen. Sie sind unfähig sich zu wehren, unfähig, dagegen anzukämpfen. Ein Tier könnte wegrennen, sich verstecken, dem Menschen Mitgefühl hervorrufen. Aber ein Baum? 

Zu unserem Haus in den Bergen gehört ein alter Apfelbaum, gepflanzt vor vielen Jahren von meinem Urgrossvater. Der Baum hat viele saftige Äpfel hervor gebracht und damit geholfen, meine Ahnen zu ernähren. Leider wurde dieser stolze Baum kurz vor unserem Kauf regelrecht verstümmelt. Bei der ersten Hausbesichtigung war Herbst und er stand da in vollem Fruchtstand; ich freut mich. Doch kurz vor der Überschreibung haben die damaligen Besitzer alle seine dicken, grossen, tragenden Äste abgeschnitten im Glauben, das sei Baumpflege. Ich kann keine anderen Worte finden als: Eine dilettantische Freveltat. Ich stand unter Schock, als ich den Baum später in seinem Elend dastehen sah. Es geht ihm seither auch entsprechend schlecht. Und mir auch. Ich versuche nun, ihm zu helfen, mich zu informieren. Dazu habe ich mir ein Buch von Peter Wohlleben gekauft, das für mich vielversprechend klang: Bäume verstehen: Was uns Bäume erzählen, wie wir sie naturgemäss pflegen. Ein Handbuch eines Försters zur richtigen Pflege eines Baumes. Ich ahnte nicht, was für eine Trouvaille ich für mich da gefunden habe. Er, der jahrelange Erfahrung als Förster gesammelt hat, bestätigt mir genau das, was ich schon lange auch so empfand: Bäume sind Lebewesen. Bäume haben Gefühle. Bäume kommunizieren. 


Aufmerksam lese ich seine Worte: Bäume sind rätselhafte Wesen.(...)Sie sind die mächtigsten Lebewesen unseres Planeten, weisen die grösste Lebensspanne auf, und doch wissen wir sehr wenig über diese Giganten. Manchmal ahnen wir, dass da noch mehr sein muss, dass unter der rauen Rinde Geheimnisse verborgen sind, die sich uns auf den ersten Blick nicht erschliessen. (...) 


Anscheinend haben Forscher in den 1970er Jahren heraus gefunden, dass Akazien sofort Bitterstoffe in ihr Laub einlagern, sobald  Gazellen oder Giraffen daran knabbern. Mehr noch, sie strömen gleichzeitig das Gas Ethylen aus, um damit die Nachbarsbäume zu alarmieren, die dann ebenfalls sofort Bitterstoffe einlagern. Diese Tiere wissen das und laufen, sobald die Blätter ungeniessbar werden, nicht zum Nachbarsbaum, sondern 50-100m weiter, weil dort die Bäume den chemischen Alarmruf nicht mehr empfangen können. - Wie spannend! Ich lese angeregt weiter.


Wahrscheinlich haben die meisten Pflanzen ein chemisches Kommunikationssystem, und wir sind umgeben von einer munter plaudernden Pflanzenwelt. (...) Da die Forschung erst am Anfang steht, darf vermutet werden, dass Bäume ein umfangreiches Vokabular an "Duftwörtern" besitzen. Das Problem für unsere wissenschaftlich rational geprägte Gesellschaft ist, dass wir den Pflanzen seit dieser Entdeckung weitere Fähigkeiten zugestehen müssen. Gefühle zum Beispiel. Bohrt sich ein Insekt in die Rinde, so muss der Baum den Eindringling fühlen, es muss schmerzen, damit er mit Abwehrstoffen und der Warnung seiner Nachbarn reagieren kann. Bäume Gefühle zuzugestehen, geht sicher vielen von uns zu weit.



Peter Wohlleben schreibt weiter: Dass dennoch Land- und Forstwirtschaft, ja unsere ganze Gesellschaft Pflanzen mehr als Gegenstände denn als Lebewesen sehen, macht den rücksichtslosen Umgang mit ihnen viel leichter. Würde man den aktuellen Forschungsstand berücksichtigen, so müsste der Forderung nach artgerechter Tierhaltung auch ein Appell nach einer entsprechenden Behandlung der Pflanzen folgen. Doch so weit ist unsere Gesellschaft noch nicht.


Wenn Bäume nicht durch die Forstwirtschaft bevormundet würden, wenn ein Wald ganz naturbelassen und nach eigenen Regeln leben könnte, so würde er ganz anders aussehen. Und es gäbe auch ein ungestörtes "Sozialleben" unter den Pflanzen. Doch wir verstehen die Forstwirtschaft ironischerweise als eine Waldpflege, als "wir-meinen-es-gut-mit-den-Bäumen." Aber eigentlich wollen wir Menschen nur nutzen und kontrollieren.

Es berührt mich zu lesen wie Bäume sogar so was wie Elternschaft pflegen: Die Vorgänge, auf die wir in ursprünglichen Wäldern treffen, sind von einer unfassbaren Langsamkeit geprägt. (...) Schon die winzigen Sämlinge werden von ihren Baumeltern im Wachstum gebremst. Die Resthelligkeit, welche durch die mächtigen Kronen bis zum Boden durchdringt, beträgt nur noch drei Prozent des Tageslichts - zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Um den Kleinen über das Schlimmste hinwegzuhelfen, knüpfen die Mutterbäume zarte Bande über die Wurzeln - und versorgen den Nachwuchs mit Zuckerlösung. Derart gebremst, aber auch gefördert, mickern die Jungbäume viele Jahrzehnte vor sich hin. Der biologische Sinn: Das ganz langsam gebildete Holz des Stämmchens ist äusserst dicht, damit sehr pilzresistent und flexibel. (...) Der Lichtmangel ist natürlich kein Zufall: Er zwingt die Schösslinge dazu, gerade zu wachsen. (...)Der lotrechte Wuchs wird erreicht, indem der Nachwuchs in regelrechten Kindergärten aufwächst. Diese Gruppen "streiten" sich um jeden Sonnenstrahl.

(...) Die meisten Arten brauchen, wie zuvor beschrieben, den Schutz und die Erziehung durch die eigenen Eltern. Vertreter dieser Kategorie sind beispielsweise Buchen, Eichen, Weisstannen oder Fichten. Notfalls genügen auch Stiefeltern, also fremde Bäume. Für einen gesunden Wuchs müssen aber in jedem Fall Altbäume über den Schösslingen stehen. "Nesthocker" haben daher in der Regel schwere Samen, die direkt neben dem Mutterbaum zu Boden plumpsen, damit die Kleinen schön bei der Mama bleiben.


Ohje! Ich glaube, ich könnte euch das ganze Buch hier abschreiben... Ich höre nun aber auf und wer nun auch Feuer gefangen hat wie ich, dem empfehle ich das Buch selbst zu lesen. Leider musste ich während der Lektüre auch erfahren, dass unserem Apfelbaum nicht mehr geholfen werden kann. Denn er wurde nicht nur dilettantisch gestutzt und verkrüppelt, sondern seine Wunden wurden auch nicht verarztet. Wenn man einen Ast abschneidet der einen Durchmesser grösseren als 5cm hat, dann muss man die Schnittstelle innerhalb der ersten 10 Minuten mit Wachs versiegeln. Ansonsten dringen Pilze in den Baum ein und fressen sich immer tiefer in den Stamm, bis dieser ausgehölt ist. Unser Apfelbaum hat viele grosse, unbehandelte Schnittstellen bekommen. Natürlich vor unserer Zeit. Ich bin traurig. Was kann ich noch für ihn tun? Die Pilze sind bereits eingedrungen und richten ihr Unheil an. Ich kriege sie nicht mehr raus. Nach den Erfahrungen von Peter Wohlleben, dem Buchautor, hat er noch eine Lebenserwartung von 10-15 Jahren. - Weiss jemand von euch, wie ich unserem Baum noch helfen kann? Ich habe Respekt vor jeder Pflanze, vor jedem Baum, aber dieser Apfelbaum bedeute mir besonders viel. Meine Urgrosseltern haben bereits seine Äpfel geerntet und damit Apfelkuchen gebacken. Meine Grossmutter ist mit ihm aufgewachsen und hat später, mit Äpfeln dann aus ihrem Garten, für meine Mutter auch oft Apfelkuchen gebacken. Apfelkuchen. Ein Traditionsessen in meiner Familie: Apfelkuchen mit Hefeteig und dazu trinken wir heissen Kakao. Ich wünsche mir so sehr, dass mein "Ahnenbaum", der seit zwei Jahren keine Äpfel mehr wachsen lassen kann, eines Tages wieder Kraft und Freude hat und mir ein paar Äpfel schenkt. So gerne würde ich die einmal kosten. Einen in den Händen halten und herzhaft reinbeissen. 

Herzliche Grüsse von Iren, die nun im Buch weiter lesen geht.