Meine Kinder fühlen sich manchmal zu kurz gekommen gegenüber dem Geschwister. Oder sie finden etwas ungerecht. Fies. Gemein. Die andere Schwester hat es besser. Sie sind traurig. Wütend.
Ganz ehrlich? Ich mag es, wenn sie mir diese Vorwürfe machen. Ich mag es, wenn sie mir ihre negativen Gefühle zumuten. Wenn sie ihre erlebte Ungerechtigkeit heraus schreien. Ich bin froh, dass sie genug Selbstwert, Vertrauen und Mut haben, um mir ihren Frust an den Kopf zu werfen.
Letzte Woche, nach einem Streit zwischen Cosima und Thalia - und mir, bei dem Cosima, neutral betrachtet, Unrecht tat und ich deshalb parteiisch wurde, da explodierte sie. Sie weinte und schrie inbrünstig: Seit Thalia auf der Welt ist, habe ich eine riieesige Wut in mir!! - Immer ist sie die Kleine, Süsse, Brave!
Das stimmt. Sogar wildfremde Frauen sind früher regelmässig auf der Strasse stehen geblieben, als die kleine, süsse Thalia laufen gelernt hatte, und übergossen die kleine Schwester mit Ausrufen der Entzückung. Die grosse Schwester Cosima blieb jedes Mal links liegen. Niemand würdigte sie nur eines Blickes. Auch dann nicht, wenn ich sie extra vorstellte: Und das ist die grosse Schwester Cosima. Wer kriegt da nicht eine Wut in den Bauch? Auch Zuhause ist es so, dass das Grösser-Sein nicht nur Privilegien und Vorteile hat. Wir erwarten auch mehr von Cosima. Ungerecht? Sicher. Aus der Sicht von Cosima zumindest, machmal auch aus unserer.
Als ich Cosima fragte, was wir nun machen sollen, war ihre wütende Antwort: Wir geben sie weg! Und ihre Augen lachten durch die Wuttränen hindurch. - Weg?! Thalia!?! Nie im Leben. Wir lieben Thalia genau so wie dich, wir behalten Thalia.
Dann erzählte ich ihr, dass Thalia umgekehrt auch solche Gefühle hat. Sie findet auch vieles ungerecht und gemein. Sie sei das Sandwichkind. Weder gross noch klein. Oder: sowohl als auch. Und sogar für Calista sei es nicht immer lustig, die kleine, schwache zu sein. Jede Position in der Geschwisterabfolge hat Vor- und Nachteile. Zudem bin ich überzeugt, dass du, liebe Cosima, sicher keine ältere Schwester über dir haben möchtest, die alles besser kann und Dinge früher darf. Nein, es ist schon richtig, dass du die Älteste bist. Dein Problem der Eifersucht haben aber fast alle Erstgeborenen, vor allem wenn die Geschwister gleichgeschlechtlich sind gibt es mehr Rivalität. Du bist also überhaupt nicht alleine damit. Es wurden sogar schon viele Bücher darüber geschrieben. Und ich holte den Computer, ging auf Amazon und gab den Suchbegriff "Erstgeborene" ein. Dann lasen wir uns durch die lange Liste der Bücher zu diesem Thema. Cosima's Atem wurde wieder regelmässiger und tiefer. Sie weinte nicht mehr, sondern schaute interessiert auf diese Liste. Es gab Distanz und das war gut. Und dann war Zeit, wieder in die Schule zu gehen.
Ich war froh über diesen Ausbruch. Ich spürte richtig, wie es Cosima gut getan hat, endlich diese Gefühle in Worte zu fassen und sie in den Raum brüllen zu können. Ich war auch dankbar darüber. Und ich liebte sie gerade in diesem Moment noch viel mehr.
Beim Gute-Nacht-Kuss am Abend fragte ich sie, ob sie immer noch so eine Wut auf Thalia habe. Nein, nicht mehr so. Und sie lächelte.
Am Tag der Magenspiegelung von Calista, da war ich am Nachmittag mit den beiden Grossen zu Hause, während Christian im Aufwachungsraum bei Calista sass. An diesem Nachmittag sagte mir Thalia: Immer kümmerst du dich um Cosima, nie um mich!
Ich umarmte sie und sagte: Du hast recht. Heute habe ich mich sehr um Cosima gekümmert. Cosima musste die Hausaufgaben fertig haben, bevor ich sie ins Schwimmtraining fuhr. Das war aber nicht nur an jenem Mittwoch, das ist jeden Mittwoch und jeden Donnerstag so. Weil sie dann jeweils von fünf bis acht Uhr abends im Synchronschwimmen ist, erst gegen neun Uhr nach Hause kommt und müde ins Bett fällt. Sie muss die Hausaufgaben vorher fertig haben, sonst fahre ich sie nicht hin. Das gab schon mehrmals grosse Auseinandersetzungen und Streit und ich bin dann vor allem mit Cosima beschäftigt. Ich richte ihr jeweils noch ein Butterbrot für in die Sporttasche. - Ich musste Thalia also Recht geben. Es gibt Stunden, da habe ich den Fokus mehr auf Cosima.
Liebe Thalia, morgen Nachmittag haben wir zwei Stunden nur für uns zwei alleine. Calista ist in der Krippe, Cosima in der Schule. Machen wir zwei zusammen ein Kaffeekränzchen? Nur Du und ich, zwei Stunden lang? Wir trinken Tee, stricken oder häkeln und du kannst mir ganz viele Dinge erzählen. - Ja, Mama, das machen wir!
Das machten wir. Ich habe das kleine Kindertischchen mit einem hübschen Tischtuch bezogen, uns einen feinen Tee gemacht und Knabberzeugs aufgetischt. Wir haben uns auf dem Sofa eingegraben, nachdem Thalia noch alle CD's sortiert hat und wir uns entschlossen haben, Amy Winehouse zu hören. Ich weihte sie in das Geheimnis des Häkelns ein und begann selber, eine Mädchenmütze zu stricken.
Das ging aber nicht zwei Stunden so. Thalia stand, nachdem alles aufgeknabbert war, wieder auf und kümmerte sich erneut um die CD's. Darauf ich plötzlich müde wurde, das Strickzeugs weg legte und ein kleines Nickerchen auf dem Sofa machte. Was Thalia mit den CD's anstellte, was sie genau zu tun hatte, fand ich nicht mehr heraus, ich bekam nur am Rande mit, dass sie noch in meiner Nähe war. Nach kurzem Abtauchen war ich wieder da und Thalia fertig mit ihrer Beschäftigung. Sie wollte fernsehen. Thalia, nein, das ist jetzt unsere Verabredung, unser Kaffeekränzchen. Komm, wir machen ein Malspiel. Und wir malten je einen Kopf zuoberst auf ein Blatt Papier, falteten es um und tauschten es aus. Danach den Rumpf malen, falten, tauschen. Beine malen, falten, tauschen. Füsse malen, falten, tauschen. Wer kennt dieses Spiel nicht? Thalia spielte es zum ersten Mal. Und wir kugelten uns vor Lachen, was dabei heraus kam.
Später kam Cosima, wir mussten wieder Hausaufgaben machen und ins Schwimmen fahren. Aber es war gut so.
Herzliche Grüsse von Iren, die noch viele Male dieses Malspiel machen musste.