Donnerstag, 12. Dezember 2013

Eine eigene Choreographie

Schon sehr lange wollte ich diesen Post schreiben. Schon lange ist's her, dass Fränzi bei uns am Esstisch sass und dabei Calista genussvoll beobachtete, wie sie zur Musik tanzte. Und immer noch höre ich ihren philosophisch ausgerichteten Kommentar in meinem Ohr: Calista hat ihre eigene Choreographie. Diese Worte haben mich die vergangenen Wochen und Monate begleitet und ich nickte innerlich immer wieder vor mich hin.


Calista wird in einem Monat vier Jahre alt. Sie ist natürlich nicht wie eine übliche Vierjährige, sie ist anders. Sie ist nach "Schulbuch" verlangsamt in der Entwicklung und steht etwa auf dem Stand einer knappen Dreijährigen. Anhand ihrer sprachlichen Entwicklung oder Feinmotorik, Spielverhalten etc. wird dieser Stand bestimmt. Doch ich denke immer wieder, dass diese Beschreibung auch nicht richtig ist. Sie ist trotzdem nicht wie eine Dreijährige. Sie ist anders. Sie tanzt ihre eigene Choreographie. Sie lebt nach einem eigenen Plan. Und dies fasziniert mich immer wieder: Ihr Wesen, welches wir zunehmend entdecken dürfen.


Calista fährt zum Beispiel nicht zielgerichtet mit ihrem Roller herum, es geht ihr nicht darum, von A nach B zu kommen, nein, sie fährt (falls die Sonne scheint) mit ihrem Schatten zusammen Roller. Das macht ihr Spaß und sie guckt immer, ob diese schwarz-graue Figur auf dem Boden mitkommt... Wenn Calista rennt, dann guckt sie auf den Boden und schaut, wie ihre Schuhe, den linken und den rechten, abwechslungsweise vorne sind. Und dies passiert ganz schnell, weil sie ja rennt. Diesen Rhythmus begeistert sie. Und mich neuerdings auch. Wenn Calista energische Striche aufs Papier malt, dann schaut sie nicht nur auf das Ergebnis, sondern sie beobachtet fasziniert die Bewegungen ihres Armes. Sie schaut, wie ihr Arm hin und her bewegt, wie die Hand dies übernimmt und der Stift in ihrer Hand dann diese Bewegung aufs Papier überträgt. - Und ich sitze daneben und staune. Denn so habe ich das noch nie betrachtet, diese "Bewegungstudien" habe ich so genau noch nie gemacht. 



Kürzlich, da habe ich Calista gemahnt, dass sie nicht mit der Hand über die geparkten Autos streifen soll, weil dies ganz schwarze Finger gäbe: Schau mal Calista, nun ist deine Hand ganz schwarz und dreckig! Und wir schauten beide auf ihre schmutzige Hand, sie hat verstanden. - Was habe ich aber mit diesem Satz bei ihr ausgelöst? Sie übernimmt meine Wertung nicht und meine Erziehungsabsichten sind ihr egal. Ich habe ihr Interesse an diesem Phänomen geweckt! Nun geht Calista freudig auf jedes Auto zu und fährt mit der Hand kurz darüber, schaut sich die Finger an und staunt: schwarz! - es funktioniert, mit jedem Auto: schwarz!



Ein ander Mal, da war ich mit ihr abends im dunklen Schlafzimmer, sie lag in unserem großen Bett und war am einschlafen. Ich saß daneben und streichelte ihre ßchen. Ihre Augen waren geschlossen, der Körper entspannt, sie atmete tief. Nun ist sie eingeschlafen, dachte ich. In diesem Moment raffte sie sich nochmals hoch, hob den Kopf, schaute mich kurz an und sagte: Tschüüss! Sank aufs Kopfkissen zurück und war in der nächsten Sekunde tatsächlich eingeschlafen. Schmunzelnd verließ ich das Zimmer. 



Ich erlebe so viele kleine Momente mit Calista, die mir zeigen, dass sie nicht einfach in ihrer Entwicklung verzögert ist. Nein, diese Bezeichnung passt nicht zu ihr. Sie ist anders. Sie spricht vielleicht wie eine Zweieinhalb- bis Dreijährige, oder hat eine Feinmotorik wie weiß nicht welcher Altersstufe entsprechend. Aber sie ist trotzdem nicht wie eine Zweieinhalb oder Dreijährige. Sie ist Calista, die bald vier wird. Vier Jahre, gelebt nach eigener Choreographie. Dies fasziniert mich. Und auch wenn sie täglich viel Geduld von mir abverlangt, weil sie noch weit entfernt von vernünftigen Handlungen ist, weil sie stets von ihrer Neugier und diversen Faszinationen getrieben ist, so freue ich mich an ihrer Andersartigkeit. Ich lasse mich gerne darauf ein. Wie kürzlich im Kinderspital, als sie ganz selbstvergessen und fasziniert die bunt angemalten Röhren anfasste und ihnen den weiten, langen Korridor folgte, ums Eck bog und verschwand, ohne eine Sekunde daran zu denken, dass sie sich von mir entfernt und mich verlieren könnte. Der Gastroenterologe und ich standen da und schauten ihr hinterher. Ich lachte und meinte nur: Darum liebe ich das Down Syndrom! - Absinken, eintauchen, ohne wenn und aber.

Es grüßt Euch herzlich
Iren, die noch gerne erzählen möchte, dass die Radiosendung über Calista den zweiten Platz des Featurepreises gewonnen hat! Ich habe Martina, die Preisträgerin, vor zwei Wochen an die Preisverleihung begleiten dürfen und musste während der Laudatio ein paar Tränen wegwischen... Kommenden Freitag, den 13. Dezember um 20h wird die Sendung nochmals ausgestrahlt. Ich freue mich sehr! Denn die Ausstrahlung wird exakt ein Geburtstagsgeschenk...

Und noch was: In der nächsten Ausgabe der österreichischen Zeitschrift "Woman" wird die Geschichte von Beslim nochmals erzählt, ich freue mich sehr!! Auch hier habe ich zum Thema nochmals sinniert.

6 Kommentare:

  1. Ich mag deinen Blog sehr, über den ich durch Zufall gestolpert bin. Seitdem schaue ich immer wieder gerne hier vorbei.
    Deine Worte haben mich sehr berührt, manchmal tut es gut durch Kinder Augen zu sehen. Es eröffnet eine ganz neue Persepktive.
    Belims Geschichte hat mich sehr berührt. Oft erstaunt und verstört mich die Arroganz von uns "normalen" Menschen. Was erlauben wir uns doch oft für ein einseitiges Urteil!

    Ganz liebe Grüsse

    Nathalie

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  2. Ein ganz warmherziger und schöner Text, liebe Iren. Untermalt mit guten Fotos, die mich entzücken.
    Danke, dass Du diese kleinen (und doch so große) besonderen Momente im Leben von Calista, Dir und eurer Familie mitteilst.
    Jeglicher Verklärung fern ist es gut zu lesen und zu sehen wie kostbar jeder Mensch ist und eben einzigartig. Es ist eine Möglichkeit, das auch im Alltag und immer wieder zu sehen und wahr-zunehmen.
    Obwohl ich letztes Mal kaum etwas verstanden habe :O) werde ich nun schauen, ob ich den Link zum Radiosender finde. Morgen habe ich jede Menge Zeit.

    Es grüßt Dich
    Oona

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  3. Ach, ich konnte die Radiosendung noch einmal nachhören. Reinhören. Dieses Mal habe ich mehr verstanden. Wie schön erneut eure Stimmen zu hören!
    Nun ist Dein Geburtstag nicht mehr weit...
    Bis später hier...

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  4. Oona, die Dritte *lach*

    Liebe Iren,
    zu Deinem heutigen Geburtstag wünsche ich Dir von Herzen
    alles Gute, Gesundheit, Frohsinn, Freude und jede Menge Glück !
    Lass Dich heute feiern und lass es Dir gut gehen.
    Liebe Grüße sendet Dir
    Oona

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  5. Hallo Iren,
    hey, diese von dir beschriebenen "Bewegungsstudien" beobachte auch ich jeden Tag bei unserem Sohn! Habe es nur noch nie so betrachtet. Danke dir. Super Text. Und alles Gute zum Geburtstag!

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  6. Liebe Iren, wie schön, wieder von Calista zu hören. Ich freu mich immer sehr über einen neuen Blogeintrag von dir, noch dazu so ein interessanter. Was gibt es nur für wunderbare Menschen um uns herum :-))

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