Montag, 7. November 2011

... über den Rand hinaus.


Auch ich muss noch was über ihn schreiben, obwohl es inzwischen schon wieder Schnee von gestern ist und die Journalisten sich wieder um andere Themen kümmern. Aber es geht mir eigentlich nicht um ihn.
Ja, der Tod von Steve Jobs hat die ganze Welt beschäftigt und man konnte überall viel über ihn lesen und erfahren. Dabei hat mich vor allem einen Satz zum Denken angeregt. In einigen Artikeln wurde erwähnt, dass er Bill Gates als einen unkreativen Menschen ohne Vorstellungskraft bezeichnete, der nie selbst etwas Neues erschaffen habe. Sein Zitat über Gates:

“He’d be a broader guy if he had dropped acid once or gone off to an ashram when he was younger.” 

Ich überlegte mir immer wieder, ob es solche grenzüberschreitende Erfahrungen wie z.B. LSD oder Extrem-Meditation braucht, um Großes hervor zu bringen. Ich habe noch nie LSD genommen und kann da nicht mit reden. Doch ich als Mutter, die mit kleinen, selbstverständlich-Grenzen-überschreitenden Kobolden zusammen lebe, sehe tagtäglich, dass es keine Pillen braucht, um einen erweiterten Horizont zu haben. Eigentlich ist es in der Grundzusammensetzung des Menschen schon angelegt. Unsere Kinder denken, fühlen und handeln unlimitiert. Ihre Phantasie und Träume der Machbarkeit sind grenzenlos, alles ist möglich. Es sind immer wir Erwachsenen, die sie einschränken, "herunter holen" und sie zügeln. Es sind wir, die verzweifelt versuchen, ihre Wildheit zu bändigen. Diese tägliche Anstrengung, den menschlichen Nachwuchs zu zivilisieren. 

Ich empfinde dies als eine permanente Gratwanderung. Denn ich möchte meine Kinder so wenig einschränken wie möglich, doch trotzdem so viel wie nötig. Ich möchte ihnen nicht dauernd Grenzen setzen, aus Angst, es könnte mir etwas außer Kontrolle kommen und dabei wunderbare Ideen im Keim ersticken. Gleichzeitig lege ich in meiner Erziehung viel Wert darauf, dass die Kinder Mitgefühl und Respekt für sich und alle Mit-Lebenden entwickeln, dass sie Verantwortung übernehmen können. Sowohl für den Menschen, wie Tier und Natur. Ich achte darauf, wie sie mit ihrer Umwelt umgehen und versuche, selbst ein gutes Vorbild zu sein. 
Doch wenn meine Nerven es zulassen, dann gebe ich möglichst wenig Einhalt, wenn ich merke, dass die Kinder in ihrem kreativen Spiel-Flow sind. Auch wenn die Wohnung dabei auf den Kopf gestellt wird, wenn es schmutzig und unordentlich wird. Ich bin selbst jemand, die leicht Chaos veranstaltet, wenn ich kreativ werde. Dann bin ich meistens wie in einem Fieber und alles um mich herum wird nebensächlich. Und dieses Fieber, dieses Feuer, egal in welcher Ausdrucksform, finde ich sehr wichtig, es darf nicht mit unnötigen, gesellschaftlichen Auflagen erstickt werden.

Auch bin ich eine Anhängering von Langeweile. Ich finde Langeweile wichtig und meistens braucht es sie, bevor eine zündende Idee kommt. Wenn meine Kinder zwischendurch mal über Langeweile klagen, dann muss ich auch den Impuls unterdrücken, den TV an zuschalten. Anstelle sage ich ihnen dann, dass ich das super fände. Ich finde es super, dass es ihnen langweilig ist. Sie schauen mich dann entgeistert an und finden meinen Kommentar nicht so lustig, aber es dauert nie lange, und schon springen sie wieder in eine neue Idee. So sind die Kinder. Sie sprühen vor Kreativität, wenn man sie nicht dauernd einschränkt. Achtung, reiss dich zusammen, pass auf, mach dich nicht schmutzig, mach dich nicht nass, sei vorsichtig, so geht das nicht, mach es doch lieber so, etc. So oft werden schon ganz kleine Kinder aus ihrer versunkenen Tätigkeit heraus gerissen, weil wir dauernd auf irgend eine Art kontrollieren oder uns einbringen wollen. Anstatt sie selber ihre Denkprozesse machen zu lassen, ihnen ihre eigenen Fehler oder Irrtümer zu gönnen. 
Ich glaube wirklich, dass wir aufpassen müssen, dass die Erziehung nicht zuviele kreative Keime erstickt. Damit meine ich auch kreatives, grenzüberschreitendes Denken. Denn es braucht kein LSD, um Menschen kreativ zu machen, sondern um ihre Kreativität wieder frei zu legen. Es liegt in uns, wir sind alle als kreative Wesen geboren, grenzenlos. Aber wir leben im Spannungsfeld mit der Umwelt, mit der Gesellschaft. Die haben auch ihre Gesetze. - Ein spannendes Thema, über das ich immer wieder mal nachdenke.

Vor vielen Jahren habe ich einmal eine Kurzgeschichte gelesen, die mir öfters in den Sinn kommt. Vor allem seit ich meine Kinder habe, werde ich regelmässig an diese Geschichte erinnert. Ich schaue Calista zu, wie sie malt und muss schmunzeln.



Über den Rand hinaus. 

Darf ich Euch die Geschichte erzählen? Sie geht wirklich ganz kurz:

Der Große Denker von Martin Hamburger

Einem großen Denker wurde erst spät die verdiente Ehre zuteil. Man überreichte ihm einen namhaften Preis, und das Radio lud ihn zu einem Interview ein. "Wie", fragte der Moderator den großen Denker, "sind Sie ein großer Denker geworden?" Der große Denker antwortete: "Als Kind schrieb ich in der Schule immer über den Rand hinaus. Mir machte das Spaß. Die Lehrer fanden das jedoch überhaupt nicht lustig und bestraften mich, indem sie jede Seite, auf der ich über den Rand geschrieben hatte, zerrissen. Das ärgerte mich, und eines Tages weigerte ich mich weiterzuschreiben. Ich schrieb keine Zeile mehr. Statt dessen dachte ich nach." "Vielen Dank für das lehrreiche Gespräch", sagte der Moderator erfreut und schaltete das Mikrofon aus. - "Das heißt", fügte der große Denker hinzu, während das nächste Musikstück über den Sender lief, "ich dachte natürlich über den Rand hinaus."

Über den Rand hinaus. Grenzenlos. Bei den Kindern geht wirklich vieles über den Rand hinaus, in vielerlei Hinsicht, und ich habe mir vorgenommen, nicht dauernd zu korrigieren und zu kritisieren. Denn ich glaube, die Kinder lernen von alleine, was nicht mehr über den Rand hinaus sollte, sobald sie dazu bereit sind. 


Und gleichzeitig ist es ja genau das, was die Welt verändert. Der Status quo der Welt kann nur überwunden werden, wenn wir über den Rand hinaus kommen und vorgegebene Strukturen verlassen.

Da können wir mit der Kindererziehung sicher einen wichtigen Beitrag leisten. Denn von Bill Gates weiss man, dass er in sehr guten, geordneten Verhältnissen aufwuchs und schon früh von den Eltern gefördert wurde. Aber wahrscheinlich war es ihm zu wenig oft langweilig.

Habt eine schöne Woche!
x iren.




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