Freitag, 12. August 2011

Meilensteine

Meine Tage zählen zur Zeit viele Stunden... Die Kinder haben Ferien und gehen spät ins Bett. Ich geniesse es, mit ihnen in den Tag zu leben und abends nicht nervös auf die Uhr schauen zu müssen und zu denken, dass Cosima schnell einschlafen sollte, damit sie morgen nicht zu müde für die Schule ist. ABER... Ich habe kaum mehr Zeit für mich. Mal abends in Ruhe Zeitung lesen, oder im Internet surfen, oder - Blog schreiben. Seltene Momente.

Bald kommt der Alltag wieder. Cosima geht dann in die 2. Klasse und Thalia beginnt den Kindergarten. Wie aufregend! Sie freut sich sehr und ich mich auch. Wenn ich nun Ferientage habe, wo ich sehnsüchtig ein kleines Stündchen nur für mich haben will, dann male ich mir in Gedanken aus, was ich an meinen "freien" Vormittage, die bald kommen werden, alles machen kann... Ich träume dann ein bisschen vor mich hin und vertröste mich damit.

Meilensteine
Diese Tage wird bei uns viel gejubelt, applaudiert und stolz gelacht. Wir sind alle ganz aufgeregt - Calista übt ihre ersten freien Schritte! 

Mir kommt vor meinem inneren Auge immer wieder das Bild van Goghs "Die ersten Schritte". Es ist ein so berührender, tiefgreifender Moment, den er da im Bild festgehalten hat. Reines Familienglück. Das Mädchen läuft zum ersten Mal zu Papa, der seine Arbeit unterbrochen hat und mit offenen Armen und in freudiger Erwartung auf sein Kindchen wartet.

Und in etwa so sieht es diese Tage bei uns aus. 

Calista steht aber alleine und ich, Christian oder eines der Kinder in etwas näherer Distanz zu ihr. Mit offenen Armen. Sie wagt sich nicht immer und ihre Schritte sind noch klein, zögerlich und wacklig. Doch sie hat bereits mehrmals ein, zwei, ja schon drei freie Schritte gemacht! Einfach so fing sie von alleine damit an. So, wie sie von sich aus das freie Aufstehen zu üben begann. Wir sind alle immer wieder freudig aufgeregt. Und sehr stolz. Unser Babylein beginnt zu laufen! Ihr Gesichten besteht jeweils nur noch aus einem grossen, selbstbewussten und stolzen Lachen. Ihr Augen funkeln und strahlen wie zwei junge Sternchen. Reine Freude.

Calista geht ihren Weg, auf ihre Art und in ihrem Tempo, doch unbeirrt. Und sie will nicht unterstützt werden. Sie macht keinen Schritt, wenn ich ihr helfen will. Sie richtet sich auch nur von alleine auf. Auf die Beine gestellt werden will sie nicht. Alles will sie nur von sich aus und selbst machen.

Wie froh bin ich, dass wir letztes Jahr auch bei der Ernährung ihr diese Chance gaben, auf eigenen Beinen zu stehen.

Calista bekam ja wenige Wochen nach ihrer Geburt eine Ernährungssonde, weil ihr Herzfehler und die Medikamente eine Gewichtszunahme verunmöglichten. Nach der erfolgreichen Herzoperation musste sie zur postoperativen Unterstützung weiterhin diese Medikamente nehmen und die Ernährungssonde blieb auf ärztlicher Verordnung. Ich stillte sie zu 80%, den Rest musste mit hochkaloriöser Babymilch per Sonde verabreicht werden. Aus der Flasche trinken klappte immer noch nicht. 
Bald war Calista sechs Monate alt und das Thema Essen rückte in den Vordergrund. Vor allem die Logopädin widmete sich dem Thema und beobachtete Calistas Essversuche. Dabei erwähnte sie erstmals die PEG-Sonde. Das ist eine Sonde, die über die Bauchdecke direkt in den Magen operiert wird und als einen "Knopf" am Bauch zu sehen ist. Per Schläuchlein kann dann nicht nur Milch, sondern sogar Brei verabreicht werden. Die Logopädin meinte, dass viele Babys mit Nasensonde nicht richtig zu essen beginnen, weil das Schläuchlein beim Schlucken störe. Wenn der Mund und Rachen frei werden, könne sich die Freude am Essen besser entfalten. Und ich habe keinen Stress und könne ihr dazu Zeit geben, weil ich jederzeit mit der PEG-Sonde genug Nahrung sicher stellen könne. Klang alles vernünftig. 
Und da fingen auch der Kinderarzt und die Kardiologin sofort an, diese Idee gutzuheissen und plötzlich war klar, Calista braucht diese Sonde. Sie wurde im Kinderspital für diese Operation sofort angemeldet und bekam für Ende August einen Termin. Gleichzeitig aber brauchte sie diese Medikamente nicht mehr, die ihr eine Gewichtszunahme erschwerten. Aber das geschah nur so nebenbei. Alle sprachen sie mir den Kopf voll mit einleuchtenden Argumenten und ihren positiven Erfahrungen. Ich nickte immer dabei und war mir schon fast gewohnt, dass vieles anders läuft bei Calista, als bei ihren Geschwistern. Doch ihr war traurig. Ich wollte keine Ernährungssonde und sicher keine fix in den Bauch operiert! Ich wollte einfach ein ganz normales Baby, das ich nach Bedarf stillen kann.


Wir fuhren in die Ferien nach Frankreich. Dort genossen wir die Sonne, das Meer und das süsse Nichtstun. Calista wurde noch mit der Ernährungssonde zusätzlich ernährt und sie nahm gut zu. Am Strand liegend entschloss ich mich, nicht einfach dem Entscheid der Ärzte nachzugeben. Ich bin die Mutter, ich bin diejenige, die das letzte Wort hat. Und mein Wort war: NEIN!! Ich will diese PEG-Sonde nicht. Ich will uns, Calista und mir, zuerst eine echte Chance geben und sehen, ob es wirklich nicht klappt, nur mit Stillen zuzunehmen. Schliesslich musste sie keine Medikamente mehr nehmen. Nie wurde davon gesprochen, dass man es nun auch auf natürliche Art mal probieren könnte. So, wie ich es mir immer wünschte, so, wie es die Natur vorsah. Mein Kinderarzt war in dieser Zeit drei Wochen in den Ferien und so wechselte ich zu einen anderen, der geographisch viel näher von uns lag. Ich wollte das in Begleitung eines Kinderarztes machen, mit regelmässiger Gewichtskontrolle.


Der erste Termin war an einem Mittwoch. Calista zog sich am Morgen die Nasensonde gleich selbst heraus, als ob sie wusste, heute kommt dieses Ding nun endgültig raus! Wir wogen sie und verabredeten uns für Freitag, zwei Tage später. Ich stillte sie in der Zwischenzeit so oft es ging und hoffte, dass alles gut sein werde. Nervös und zittrig ging ich zum nächsten Termin und legte Calista vor den den Augen der Arztgehilfin auf die Wage: Sie hat fast 200g abgenommen. Peng! Mein Herz sank auf den Boden, ein ganzes Luftschloss fiel in sich zusammen und ich dachte mir: jetzt ist der Traum aus. Fertig, Schluss. Sie muss also doch operieren. Ich wartete noch auf den Arzt, der das Resultat mit mir besprechen wollte, doch ich wusste bereits aus Erfahrung, dass ein solcher Gewichtsverlust nicht akzeptabel war. Dr. Holtz kam herein, schaute sich die Werte an und sagte mit seiner tiefen, warmen Stimme: Das beeindruckt mich überhaupt nicht. Das war zu erwarten. Machen wir weiter!
Ich schaute ihn ungläubig an - was hat er mir nun eben gesagt?!  Meine Augen füllten sich sofort mit Tränenwasser und ein ganzer Schwall von angestauten Gefühlen schwappte in meinen Hals und machte einen grossen Kloss. Schön zurück halten. Nur nicht richtig losheulen, Haltung bewahren, einfach keine Heulsuse sein. Da stand er, der Arzt, und strahlte so viel Erfahrung, Menschlichkeit und Mitgefühl aus und vor ihm stand ich, ein unsicheres Bündel Mama, voller Emotionen und so dankbar, endlich verstanden zu werden! Endlich jemand, der versteht, was ich wirklich will und bereit ist, mit mir den Weg zu gehen. Er fügte an, dass es doch völlig normal sei, da meine Muttermilch nie soviel Kalorien habe wie die Spezialnahrung, die Calista bekam. Sie dürfe und werde noch weiter abnehmen, bis sie dann selbst wieder anfange, zuzunehmen und ihre eigene Wachstumskurve finde. Ich erklärte dann, fast entschuldigend, dass Calista nun lernen müsse, den nötigen Bedarf selber zu holen und meine Brust nun auch für den neuen Bedarf mehr produzieren müsse. Dieses gemeinsame Einpendeln brauche auch ein paar Tage. Er nickte verständnisvoll und wissend. Und ich merkte an seinen Kommentaren, dass er jemand ist, der einiges mehr übers Stillen weiss als viele andere seiner Kollegen... Wir machten gleich weitere Gewichtskontrolltermine ab und dann hüpfte ich mit Calista aus der Arztpraxis. Ich hatte das federleichte Gefühl, endlich am richtigen Ort, endlich angekommen zu sein. Es war ein Freudetag!


Nach zwei Nächten hörte Calista auf, durchzuschlafen, was sie bisher immer tat. Der Hunger weckte sie in der Nacht und sie begann, auch nachts an der Brust zu trinken. Ich war glücklich, endlich ein normales Baby zu haben! Es wurde für mich natürlich anspruchsvoller, auch in der Nacht zu stillen, doch das war ihr Recht. Ihr Babyrecht. Auch ihre Schwestern wurden nachts gestillt und auch sie, die Jüngste, durfte nachts Milch trinken. Und wenn ich so die Operation vermeiden konnte, war ich mehr als froh und dankbar, dies zu tun! Calista hat Eigenverantwortung übernommen und war dabei, erstmals in ihrem kleinen Leben sich selbst zu ernähren, auf eigenen Beinen zu stehen. - Was für einen Meilenstein!


Noch ein bisschen nahm Calista in den kommenden Tagen ab, dann stagnierte sie kurz und von da an fing sie kontinuierlich an, zuzunehmen. Bis zum heutigen Tag. Ich erinnere mich gut an den Moment, als der Arzt mir sagte, ich solle den Operationstermin absagen. Das war ein super gutes Gefühl: Calista braucht keine PEG-Sonde!! Keine Operation, nichts. Sie ist ein ganz normales Baby geworden. Innert zwei Wochen. Ohne medizinisches Zutun. Einfach ihr die nötige Zeit und Ruhe gegeben. Ich bin Doktor Holtz zutiefst dankbar. 


Und die Moral der Geschicht? - Auf die anderen hört man nicht. Auch wenn es Fachpersonen sind, die einen etwas empfehlen wollen. Immer den Mut haben, auch auf seine eigene innere Stimme zuhören, den Mut haben, auch den eigenen Menschenverstand zu nutzen und nach Mitmenschen zu suchen, die einen bestärken. Es lohnt sich.


Ich darf mir nicht vorstellen, wie das weiter gegangen wäre, wenn Calista diese Sonde in den Bauch bekommen hätte. Ich Calista immer hätte ausziehen müssen, um ihr Nahrung zu geben. Und dann diese Wundpflege, und die Gefahr, dass es sich immer wieder entzünden kann, oder die Sonde ist nicht ganz dicht und sabbert... Und überhaupt: diese Sonde ist nicht die Lösung des Problems. Mit dieser Sonde hat Calista noch keinen Schritt in Richtung selber ernähren gemacht. - Ich wäre ja dazu bereit gewesen, wenn wir alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hätten und nichts geklappt hätte. Als letzte Möglichkeit, als echte Notwendigkeit, ja. Aber nicht als erste. Den ersten "sicheren" Weg. Nein.

Und es hat sich gezeigt, dass Calista sehr wohl im Stande war, für sich zu sorgen und sich zu ernähren. Sie hat problemlos mit Essen angefangen und will alles probieren. Sie geniesst all diese verschiedenen Geschmäcker und Konsistenzen im Mund. Sie isst nicht viel, doch gerne. Und sie nimmt zu. Das ist alles, was mein Herz begehrt. Mehr braucht es nicht.


Ja, liebe Calista, mit offenen Armen warten wir weiterhin auf dich und auf alles, was du mitbringst. Wir lernen viel durch dich und sind dir dankbar dafür. Du bereicherst unser Leben.

Unser neuer Kinderarzt hiess von da an Dr. Holtz. Seine Arztpraxis ist unser medizinisches Zuhause geworden.

xxx, iren

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