Samstag, 19. Februar 2011

"Ich mache einen Plan."

Die erste Nacht zu hause lag Calista die ganze Nacht in meinem Bett in meinen Armen. Ich umarmte sie und ließ sie nicht mehr los. Ihren Atem in meinem Ohr, ihre Wärme stets spürbar, Herz auf Herz. Ich brauchte das und ich glaube, sie auch.

Die Verantwortung für ihr gesundheitliches Wohlbefinden, das zeitliche Einhalten der verschiedenen Medikamenteneinnahmen, das Abpumpen, Aufbereiten und Sondieren der Milch, das Beobachten ihres Allgemeinzustandes bezüglich Herzinsuffizienz etc. war schon drückend. Auch standen immer wieder Arzttermine an, um die Gewichtszunahme zu kontrollieren und um das Herz weiter zu beobachten. Doch ich war trotz dieser Last sehr erleichtert. Ich konnte das alles gut bewältigen, weil Calista bei mir war, es gab keine Trennung mehr.


Cosima und Thalia schlossen ihre kleine Schwester sofort fest in ihr Herz, auch wenn sie sehr viel Aufmerksamkeit von uns Eltern für sich erhielt. Sie war ihr Liebling, ihr Baby, ihren Stolz.
Wir ließen noch ca. zwei Wochen verstreichen, bis Calista ihren Platz in unserer Familie gefunden und sich alles wieder ein bisschen normalisiert hatte. Dann war für mich der Zeitpunkt gekommen, den Großen zu erzählen, dass Calista nicht nur einen Herzfehler hat. 
Ich erwähnte das bewusst eher beiläufig, wir sprachen gerade über dies und das und Cosima erzählte, was sie später mal mit Calista alles unternehmen wolle. Da sagte ich ihr, dass sie mit ihr dann etwas mehr Geduld haben müsse, dass Calista die Dinge alle ein bisschen langsamer lernen werde, weil sie Trisomie habe. Sie fragte, was das denn sei, Trisomie. Ich erklärte es ihr so, wie ich es einst im Biologieunterricht gelernt habe. Ich erzählte von den Genen und ihren Informationen über uns, von den Chromosomen und dass Calista ein Chromosom mehr habe als wir. Ich weiß nicht, was Cosima verstand, aber Hand aufs Herz, was verstehe ich schon wirklich davon?! Es ist für mich auch alles nur Theorie und ziemlich abstrakt... Sie war auf jeden Fall zufrieden mit dieser Antwort und schien sich einen Reim auf das Ganze machen zu können. Thalia saß die ganze Zeit zu meinen Füßen auf dem Boden und hörte nur mit einem Ohr zu, ihr war diese Geschichte nicht so wichtig. Calista ist Calista und sie streckt zur Thalias Belustigung ein bisschen viel die Zunge raus. Aber sie darf das ja, sie ist ja noch ein Baby!
Und Cosima packte 'das Problem' gleich an: Gut Mami, dann helfe ich Calista mit dem Laufen lernen. Und ich werde, wenn sie vier ist, mit dem Lesen lernen anfangen. Ich mache dann einen Plan, jede Woche einen Buchstaben. Ist das gut, Mami? - Ja, das finde ich toll!
Am einen Abend darf Calista bei Thalia einschlafen,

und am anderen bei Cosima, immer abwechslungsweise.
Cosima wollte auch wissen, ob Calista denn behindert sei. - Ich mag dieses Wort überhaupt nicht, doch ich sagte: Ja, ein bisschen. Aber viele Menschen sind behindert, stärker oder schwächer, sichtbarer oder unsichtbarer, kurzfristig oder langfristig, fügte ich an. Alle, die eine Brille haben, sind sehbehindert. Alle, die im Rollstuhl sind, oder eine Krücke oder Stock brauchen, sind gehbehindert. Wenn man nicht gut oder gar nicht hören kann ist man im Ohr behindert. Dann gibt es die Behinderung im Gehirn, und die Behinderung im Herz. Die sieht man am Schlechtesten. Calista wird im Hirn leicht behindert sein, dafür ist sie stark im Herzen. Du wirst sehen.

Ach, wie ist mir dieses Wort "behindert" auf einmal verhasst geworden! Plötzlich erhielt es eine ganz andere Bedeutung für mich. Nicht mehr nur ein leeres Wort, nein, ein ganzes Leben soll sich darin abspielen. Ich sträube mich dagegen.

Am zweiten Tag nach Calistas Geburt ist auf mein Zimmer in der Wochenbettstation eine Sozialarbeiterin gekommen. Sie wollte sich mit mir unterhalten und eröffnete das Gespräch mit den Worten: Sie haben ja jetzt ein behindertes Kind. Ich starrte sie verdutzt an und dachte: Was fällt dieser wildfremden Person eigentlich ein, mein kleines, unschuldiges Baby mit einem solchen Wort zu klassifizieren! Ich wollte sie gleich zur Tür komplementieren, doch versuchte ich gleichzeitig, höflich zu bleiben. Nach fünf Minuten schaffte ich es dann, dass sie wieder draußen war. Ich brauche jetzt niemanden, der mein Baby so betitelt. Ich will mein Seelchen, dass soeben zur Erde gekommen ist, noch nicht mit einer solchen Brille betrachten.

In der Zeit der political correctness und dem Antirassismusgesetz muss man genau aufpassen, wie man andere Menschen aus anderen Kulturen bezeichnet. Ich finde das richtig und gut so. Aber warum um Himmels willen wird immer noch eine Gruppe von Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorraussetzungen als Behinderte bezeichnet und damit in einen Topf geworfen? Somit an den Rand gestellt und abgestempelt? Warum ist dieses Wort immer noch offiziell so im Gebrauch? 

Man darf Menschen mit Down Syndrom umgangsprachlich nicht mehr "Mongoloide" nennen, weil sich die mongolische Regierung dagegen gewehrt hat. Das ist politisch nicht korrekt. Aber das Volk der "Behinderten" lebt ungehindert weiter. Wehrt sich niemand dagegen? Welche Regierung setzt sich dafür ein, dass endlich ein neuer Begriff eingeführt wird?

Calista hat Trisomie 21, ist aber in meinem Augen noch nicht behindert. Und vor allem ist sie nicht einfach eine Behinderte. Sie ist viel mehr. Sie ist ein ganzer Mensch. 

Sie liegt nun hier, auf meinem Schoss, und schläft. Ihr Atem röchelt manchmal etwas, weil sie erkältet ist. Sie ist ganz eng bei mir, ihren Kopf auf meinem Bauch. Ihr Körper wärmt mich wie ein Öfchen. - Meine kleine Süße, ich wünsche mir, dass du in deinem Leben ganz vielen Menschen begegnen wirst, die dich als gleichwertig annehmen werden. Die deine Stärken sehen und anerkennen und du deine Gabe leben kannst.


2 Kommentare:

  1. Cara Iren, ich lese Deinen Blogg das erste mal und mit sehr viel Interesse. Ja Eure Calista ist ein einzigartiges Kind und Du sollst wissen dass ich Dich/Euch, auch wenn wir uns in letzter Zeit zu selten gesehen und gehört haben, unterstüten und Eure Calista auf Ihrem Lebensweg wann immer sie es braucht begleiten möchte. Ihr seid eine tolle Familie mit sehr viel Liebe und Ausstrahlung. Ihr fehlt mir sehr. Alles Liebe für Euch alle. Barbara

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  2. Ach, liebe Barbara, wir vermissen Dich auch sehr...! Du bist das Herz des Hauses.. Und Du warst so nahe am Geschehen dabei letztes Jahr... Hab vielen Dank für Deine rührenden Worte. Love, iren

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