Sonntag, 2. Dezember 2012

4"33'

"Vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden" soll mein Advents-Sonntag-Ritual werden. Arianne von still parenting brachte mich auf die Idee, denn sie schrieb kürzlich einen wunderbaren Post über ihr Lieblingsstück 4"33'.

4"33' ist ein Schlüsselwerk zur Neuen Musik von John Cage. Der experimentelle Komponist hat für vier Minuten und 33 Sekunden lang ein Stück "geschrieben", das alles offen lässt, das jedes Mal, wenn es "gespielt" wird, wieder von Neuem entsteht.

Die notenfreie Komposition gliedert sich in drei Sätze:
I
TACET
II
TACET
III
TACET
Der Titel beschreibt die Gesamtdauer der Uraufführung in Minuten und Sekunden, das Werk kann aber beliebig lange dauern.
Es gibt eine beliebige Art und Anzahl, oder auch keine Musikinstrumente. Denn sie spielen nicht, es wird nur gehört. Für vier Minuten und 33 Sekunden steht im Konzertsaal alles still und die Ohren konzentrieren sich nur auf die Geräusche, die man in dieser Stille wahrnehmen kann. Die Geräusche werden im Kopf des Hörers zu Musik, jedes Hirn komponiert anhand der wahrgenommenen Klänge und Rhythmen die Melodie selbst zusammen.

Auch wenn es für viele heute nicht mehr neu ist, war es damals 1952 in der Maverick Conert Hall bei Woodstock ein Skandal. Die Zuhörer waren empört: Was für eine Frechheit, ein Stück anzukündigen und dann nichts zu hören! Sie fühlten sich an der Nase herum geführt. Damit hat John Cage eine große Diskussion über Stille und Geräusche, Komposition und Erwartunghaltung, Kunst und Können etc. ausgelöst, die auf der philosophischen Ebene bis heute andauert. Das Stück gilt inzwischen schon als Art Performance der Musik und wird immer wieder aufgeführt, als Highlight des Programms.


4"33' ist ein Stück, das alle spielen können. Zu jeder Zeit und überall. Alleine oder in der Gruppe, mit oder ohne Instrumente, lange oder nur ganz kurz. Es bietet einen die Gelegenheit, kurz abzuschalten und innezuhalten. Sich zurück zu lehnen und sich ganz den Geräuschen des Moments hinzugeben. Sie nicht als Lärm zu empfinden, sondern als Musik. Mein Alltag ist Kunst. Ist das nicht wunderbar?!!

Jeden Adventssonntag möchte ich mir die Zeit dazu nehmen, mich ganz bewusst der Musik meines Alltags hinzugeben. Genau hin zu hören, was gerade um mich herum passiert. Mein Hier-und-Jetzt aufzusaugen und zu geniessen. Adventsmusik. 

4"33' gespielt eben jetzt, 1. Advent:

I
Kinderstimmen draußen -- Schublade knallt zu - Cosima singt - nackte Füße auf Parkett die schlurfen --- 
II
Schiebetüre gleitet - Thalia lacht -- Christian atmet tief ein - Thalia schnalzt --- Plastiksack knistert --- Calista brabbelt - kichert ---- iPhone piepst -- Christian ruft - Schranktüre geht zu - Mutterstimme von draußen -- Cosima singt -- WC-Deckel geht auf --- 
III
Vorhang wird zur Seite geschoben und klopfen ans Fenster -- Wasser rauscht und plätschert -- schnäuzen -

Ende.

Seid ihr inspiriert? Möchtet ihr auch mitmachen? Gerne! Haltet jeden Adventssonntag kurz inne und spielt das Stück von John Cage. Und wenn ihr es auch mit mir und anderen Lesern teilen möchtet, dann schreibt euer gehörtes Stück auf und schickt mir im Kommentar einen Link. Ich werde eine Linkliste machen mit allen "Komponistinnen". Wäre schön, einige Adventsmusikstücke zu hören!

Und sie sind dabei:

Oona hat bereits musiziert.
Raniso's Adventsmusik.

Wer ist noch dabei?


Ein anderes Thema:
Morgen, am 3. Dezember, ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ein Gedenktag an die Rechte und Würde der Menschen mit Behinderungen. Dieses Jahr trägt er das Motto: "Kultur ohne Hindernisse - Kultur für alle" Ich möchte Euch zu diesem Anlass einen Musikvideo von Sigur Ros, der isländischen Musikgruppe, zeigen. Ihre Videos sind immer sehr sphärisch, mystisch und wie aus einer anderen Welt. Und inhaltlich oft schwere Kost. Christian und ich haben lange über diesen Video diskutiert, der ganz gemischte Gefühle in uns auslöst. Von Unbehagen bis Faszination. Man taucht ein in eine Welt von anderen Wesen und Naturgeister, eine Welt von Fröhlichkeit und Traurigkeit zugleich, von Schweben und Schwere. Sigur Ros ist diesen Menschen mit viel Respekt begegnet und hat ihre Eigenartigkeit zur Kunst erhoben. Aber er löst in mir auch ein Gefühl aus, aus dem ich mich heraus winden möchte...


Morgen, zum 3. Dezember, werde ich Euch die Geschichte von Nils posten, die seine Mama Marion erzählen wird. Eine Geschichte, die mich sehr berührt hat und gut zur Adventszeit passt. Ich freue mich auf morgen!

xxx iren.

12 Kommentare:

  1. Danke für Deine wunderbare Musik zum ersten Advent. Sehr inspirierend. Vielleicht musiziere ich heute auch noch. 4.33 Minuten lang.
    Danke für das erste Video. Begeistert mich.

    Adventliche Grüße
    Oona

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  2. Oh ja, machst du mit - schreibst du mir deine Musik? Würde mich riesig freuen!!
    Herzlich,
    iren

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    1. Es wird wohl morgen oder übermorgen werden.
      Heute noch Probleme mit dem Ohr.

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    2. Hallo liebe Iren,
      hier
      http://oona108.blogspot.de/2012/12/433.html
      ist meine Musik :O)

      **

      Danke für den Platz über die Geschichte von Nils und seinen Eltern. Der Text hat mich sehr berührt.
      Danke für die Bilder vom Post "Nils"

      Grüße an Dich!!!
      Oona

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  3. Liebe Iren
    dass dich das Video als betroffenes Mami fast zerreist, kann ich verstehen! Doch schau dir die Gesichter der Darsteller an! Sie sind alle glücklich, zufrieden und strahlen für mich so eine tiefe Ruhe aus! Erdverbunden, würde ich sagen. Manch einer ohen "Behinderung" könnte sich nie so zu dieser Musik bewegen! Sie fühlen sie! Wunderschön! Danke fürs posten!
    Ich hatte eine Tante mit Trisonomie 21 und sie war der liebste, glücklichste Mensch auf Erden!
    4..33 muss ich noch etwas wirken lassen! ,-)
    Liebe Grüsse
    Nici

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    1. Liebe Nici
      Ja, als Betroffene schaut man sich solche Videos automatisch aus einer anderen Perspektive an. Und ich habe mich gefragt, was das alles für Gefühle sind und woher sie kommen. Einerseits finde ich den Video total schön und ästhetisch. Aber auch etwas gespenstisch fast. Ich glaube, es ist dieses abgehobene, wie aus einer anderen Welt, das mir Unbehagen auslöst. Diese Menschen wirken wie Wesen aus einer Welt von "Der Herr der Ringe" oder so. Ein Volk von Gnomen...
      Ich finde auch, dass sie sich total schön zur Musik bewegen und einen sehr berührenden Video daraus entstanden ist. Und die Landschaft von Island ist einfach mystisch! Aber ich muss auch sagen, dass Sigur Ros immer wieder mal Unbehagen in mir auslöst. Faszination und Unbehagen.

      Sei herzlich gegrüsst!
      Iren

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    2. Ich habe nochmals darüber nachgedacht... Mit dem Volk der Gnomen meine ich nicht, dass sie welche sind. Aber der Norden ist ja voll von Trollen und Naturgeistern! Ich glaube, mich stört der Aspekt, dass sie nur unter sich sind. Als ob sie ein abgehobenes Grüppchen wären, Wesen nicht ganz von dieser Welt. - Elfenhafte Naturgeister. Der Video gefällt mir, aber er würde mir noch besser gefallen, wenn die Tanzenden gemischt wären, nicht nur Darsteller mit Down Syndrom zu sehen wären. Aber vielleicht verliert er dann auch an Ausdrucksstärke... Hmm, ja, vielleicht ist er auch ganz gut so, wie er ist. Ach, ich kann nicht mehr darüber nachdenken, muss nun schlafen gehen... x iren

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  4. Tolle Idee! Habe ich gleich mitmusiziert... ;-) Werde es heute abend posten, wenn ich dazu komme :-)
    Ganz liebi grüäss, anja

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    1. Geschafft! Siehe hier: http://raniso.wordpress.com/2012/12/03/was-ich-mag-die-idee-von-433/
      Ganz liebi grüäss, anja

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  5. Was für eine Idee!
    Ich bin gespannt, ob ich es schaffe, mitzumachen. 4"33' selbst zur Ruhe kommen, ohne dann in einer Haltung zu landen, in der ich die Außengeräusche gar nicht wahr nehme, wird gar nicht so einfach.

    (Ich mache das manchmal kurz mit meinen Lütten in der Klasse. Aber nur ganz kurz, dass wir lauschen, ob etwas und was zu hören ist, wenn wir ganz ganz still sind. Da erklingen manchmal auch ganz vielschichtige Musikstücke.)

    Liebe Grüße
    und euch eine wunderschöne erste Adventswoche.

    Nula

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    1. Liebe Nula,
      es muss ja nicht so lange sein, es ist einfach die Dauer der Uraufführung. Dein Stück darf auch nur eine Minute dauern... oder fünf.... oder zwei und achtundfünfzig Sekunden... Your are the artist!

      ;-) Gute Nacht,
      iren

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