Mittwoch, 11. Mai 2011

Die Herzoperation

Ein Jahr ist es nun her.

Ich erinnere mich gut an die vielen Stunden, die ich auf dem Sofa verbrachte, mit der Milchpumpe in der Hand. Das rhythmische, monotone Geräusch klingt noch in meinen Ohren. Wie ich oftmals spätabends dabei einschlief und erst nach über vier Stunden wieder erwachte, die Milch dann zu lange nicht gekühlt war und ich sie wegkippen musste. Meine Erschöpfung war groß, aber mein Wille noch größer. Ich wollte Calista meine Milch geben, auch wenn sie noch zusätzlich mit Kalorien angereichert werden musste, damit Calista trotz den Medikamenten noch zunehmen konnte. Ich wollte nicht auf das Stillen verzichten, auch wenn es mir nur noch zweimal pro Tag erlaubt war. Die restlichen Mahlzeiten bekam sie per Nasensonde in den Magen "gespritzt", weil sie nicht aus der Flasche trank. Mein Babylein.


Ich erinnere mich noch, wie ich mein Mobile mit vier verschiedenen Alarmzeiten eingestellt habe, die mich pünktlich daran erinnerten, Calista ihre Medikamente zu verabreichen. Christian hat immer die 23h-Schicht übernommen. Er hat auch bald gelernt, wie man eine Nasensonde legt. Je älter Calista wurde, um so öfter hat sie sich die Sonde gezogen. Bis zu zweimal am Tag.

Die Operation war auf Ende Mai vorgesehen, bis dahin sollte Calista das Mindestgewicht von 5kg haben. Ich war anfangs zuversichtlich dieses Ziel zu erreichen, doch ihre Gewichtzunahme wurde zu einem schwierigen Thema. Wöchentlich musste ich sie beim Kinderarzt auf die Waage legen und jedes Mal hielt ich nervös den Atem an. Und jedes Mal war es eine Ernüchterung. Ich war dankbar, wenn sie kontinuierlich 60g pro Woche zu nahm und nicht stagnierte oder abnahm. Es war eine Zitterpartie. Und niemand erklärte mir, dass Calista an Stauungsgastritis litt.

Am Donnerstagnachmittag, den 6. Mai erhielt ich einen Telefonanruf aus dem Kinderspital. Man wolle mir einen Termin für Calista's Herzoperation vorschlagen, ob ich spontan sei. Da es Calista nicht gut gehe mit der Gewichtzunahme (sie hat knapp 5kg geschafft), wolle man nicht länger zuwarten und schlage kommenden Dienstag, den 11. Mai vor. Eintritt ins Spital am Montagmorgen. Ich schwieg. Tausend Gedanken und noch mehr Gefühle gleichzeitig. Dann hauchte ich o.k. in den Hörer. Hab ich nun eben zugesagt? - Ich hab zugesagt. Ja, Calista wird am 11. Mai operiert. Am 11. Mai entscheidet sich nochmals ihr Schicksal, die Chance auf ein neues Leben. Wir regelten noch ein paar organisatorische Fragen, dann legte ich auf und weinte. Es war zu emotional. 


Ich musste wieder mein Baby hergeben. Sie ist mir so sehr ans Herz gewachsen und zu einem festen Teil der Familie geworden. Mein Bruder heiratete am Samstag vor der Operation. Es war eine wunderschöne Hochzeit. Beim Apéro, als die ganze Familie, die Tanten und Onkel zu mir kamen und wissen wollten, wie es uns gehe, da weinte ich nur. Ich wollte fröhlich sein und dankbar, aber es ging nicht, es kam ungehindert aus mir raus. Dieser ganze Herzschmerz.

Wir ersehnten die Operation, wir warteten darauf und wir wussten, es gibt keine Zweitmeinung. Im Gegenteil, wir waren sehr dankbar, dass die Medizin zur heutigen Zeit überhaupt so weit war, diesen Herzfehler zu operieren. Die Diagnose war klar (kompletten AV-Kanal und Herzklappenfehler) und ohne Operation hätte Calista eine Lebenserwartung von ca. 1-2 Jahren gehabt. Gibt es da noch ein Zögern?! Aber diesen Schritt nun zu gehen war trotzdem nicht einfach. Wir hatten Angst.

Am Montagmorgen bezog sie ihr Spitalbettchen und musste einige Voruntersuchungen über sich ergehenlassen. Und wir hatten ein Gespräch mit Dr. Dave, dem Oberarzt von Dr. Prêtre, der Calista operieren wird. Ich war angespannt: was ist das für ein Mensch, der Calista's Herz lebensfähig machen, der ihr zartes Herzchen in den Händen halten wird? Als er uns begrüßte, in sein Sprechzimmer hineinführte und wir am Tisch Platz nahmen, ging es mir rasch besser. Er war ein sehr ruhiger, sanfter und ernsthafter Mensch und er strahlte eine große Fachkompetenz aus. Er klärte uns über die Operation und die möglichen Risiken auf. Während ich ihm zuhörte, schaute ich auf seine Hände. Es waren schöne, feingliedrige Hände. Sie waren männlich und gleichzeitig wirkten sie zart und sensibel. Dieser Mann hat Fingerspitzengefühl. Ich nickte den Fingern unmerklich zu und gab meine innere Zustimmung. Ja - ihr dürft das Herz meines Kindes anfassen. Rational habe ich schon lange zugesagt, jetzt auch emotional.

Am Vorabend machte ich noch Bilder von Calista mit unversehrter Brust. Der Gedanke, dass sie morgen früh aufgeschnitten wird, schmerzte mich.


Wir genossen still die letzten Stunden mit ihr. Wir wussten, dass das Risiko heutzutage sehr gering war. Doch was ist, wenn...? Schließlich bekommt sie eine Vollnarkose und wird an die Herz-Lungen-Maschine angeschlossen, schließlich wird ihr Herz über mehrere Stunden nicht mehr schlagen, schließlich musste Vieles dem Schicksal überlassen werden.

Ich habe sie am Abend zuvor ins Bettchen gebracht, wartete bis sie friedlich einschlief und habe sie nochmals liebevoll zugedeckt und geküsst. Schlaf gut, mein Babylein. Alles wird gut. Leise schlich ich aus dem Spitalzimmer und lächelte der Nachtschwester zu. Ich fühlte mich ganz ruhig und stark und ganz ruhig und stark fuhr ich nach hause und legte mich ins Bett.

Am nächsten Morgen kam meine Mutter und verbrachte mit uns den Tag. Ich wollte, dass sie für die Kinder kocht und einfach da ist, uns moralisch unterstützt. Ich brauchte meine Mutter. Und ich erwartete, dass ich ein Nervenbündel sein werde, nicht fähig, einen klaren Gedanken zu fassen, nicht fähig, eine sinnvolle Handlung auszuführen. Doch ich blieb den ganzen Tag ruhig und stark. So, wie ich Calista am Vorabend verabschiedete, so blieb es. Wahrscheinlich wusste ich ganz im Innern, dass alles gut kommen wird. Ich hatte Urvertrauen. Das ist das, was bleibt, wenn man sein Kind für eine lebensentscheidende Operation hergeben muss. In diesem Moment weiss man, dass man nichts mehr dazu tun kann; das Schicksal nimmt seinen Lauf. Und das gab mir Ruhe.

Um vier Uhr nachmittags kam der erlösende Anruf, dass die Operation gelungen sei. Wir eilten sofort ins Spital. Ich war sehr ungeduldig und konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Wissend, dass sie noch nicht das Babylein sein wird, dass ich verlassen habe. Sondern frisch operiert, unter Narkose und Morphium stehend, mit aufgedunsenem Gesichtchen und noch beatmet. Sie hatte schwierige Stunden hinter sich und sie hat es gemeistert! Ich beugte mich ehrfurchtsvoll über ihr Bettchen, strich ihr über die Stirn, streichelte ihre Händchen und Tränen kullerten über meine Wangen. Tiefe Dankbarkeit erfüllte mein Herz.


Calista bekam die ersten Tage Schlafmittel und Morphium. Das war gut, so blieb ihr jeglicher Schmerz erspart und sie blieb ruhig liegen. Nach 24h Stunden waren die meisten Schläuche wieder verschwunden, die Drainage bei der Wunde sowie die Infusion am Hals blieben noch, womit schnell und direkt Schmerzmittel verabreicht werden konnte. Und die Ernährungssonde. Ich war sehr bewegt, als ich sie das erste Mal wieder in meinen Armen halten, später wieder stillen durfte. Alles verlief komplikationslos, alles bewegte sich zurück in die Normalität.



Calista kam bald auf die Neonatologie und wurde dort mit viel Zuwendung gesund gepflegt. Ich war froh zu sehen, wie die Pflegerinnen Calista ins Herz schlossen, sie viel in den Armen hielten, wenn sie unruhig war und Calista sogar im Tragetuch bei sich hatten, wenn sie beschäftigt waren. Ich war sehr dankbar für diese Liebe und Menschlichkeit, die unserem Baby im Spital zuteil wurde und es trug sicher viel zur raschen Heilung bei. Bereits am 11. Tag nach dem grossen Eingriff durfte sie wieder zu uns nach Hause kommen. Mit Ernährungssonde, weil sie immer noch nicht gut zunahm. Ich erhoffte mir auch da eine Normalisierung, doch die Medikamente, die sie zur postoperativen Unterstützung noch brauchte, verhinderten eine problemlose Gewichtszunahme.


Beim Austrittsgespräch mit Dr. Dave erfuhren wir, dass die Herzklappen operiert werden konnten, beide aber Insuffizienzen aufweisen. Die linke Herzklappe nur eine kleine, vernachlässigbare, doch bei der rechten sehe es nach einer mittelschweren Herzklappeninsuffizienz aus, die nun beobachtet werden müsse. Vielleicht brauche Calista eine Folgeoperation in 1-2 Jahren. Ich nickte und dachte: Nein, bitte nicht! (Inzwischen ist noch alles gut, wie ihr bei Calista's Untersuchung nachlesen könnt). Dr. Dave erklärte mir, wie es dazu kam, weil zu wenig Gewebe da war um die Herzklappen verschlussdichter zu modellieren. Ich staunte einmal mehr über die unglaublichen Leistungen der Herzchirurgen. Sie arbeiten wie Uhrenmacher an einer winzigen Uhr, mit dem grossen Unterschied, dass jedes Herz anders aussieht und eine Fehlentscheidung folgeschwer sein kann. Ich habe ganz große Bewunderung für diese Arbeit, für dieses Können!

Ich schenkte Calista das erste Leben, Dr. Dave ermöglichte ihr das zweite. Und sie hat die schwere Aufgabe wunderbar gemeistert. Sie ist eine Kämpferin.

Beim Abschied drückte ich Dr. Dave ganz fest seine feingliedrige Hand. Ich hätte sie küssen können.




4 Kommentare:

  1. Wie berührend ist dieser Bericht über all das, was so schwer hinter euch allen liegt.
    Um so schöner heute von ihr zu lesen und von ihrem Leben.
    Möge ihr Herz sich weiter gut entwickeln.

    Oona

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  2. Beim Lesen sind mir Tränen übers Gesicht gekullert. Ich musste mit meiner Maus bisher auch viel mitmachen und die Zukunft bleibt noch offen, da uns kein Arzt sagen kann, was sie bringt..
    Ich wünsche euch alles Glück der Welt für eure Familie <3

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  3. Liebe Iren,
    Ich habe fast nicht geglaubt wenn ich deine Blog gelesen.
    Seid euch!!!! ich erinnere mich immer vom euch.
    Ich bin Mutter von Pedro Lucas Schönauer, er hat ein tag später die Herzoperation nach Calista gemacht. Weiss du noch? Ich fragt mich immer: wie geht's Calista und deine Familie? wollte immer etwas über euch hören!
    Mein Deutsch ist immer noch schlecht hihihihi (sorry)
    Aber, ich probiere schreiben für dich und ich lerne noch.(bin ich wieder in den deutschKurs
    Wir sind deine Telefonnummer verloren. Und ich war sehr schwierige für mich die erst jahr zum alles verstehen. Aber jetzt ist alles wieder gute und wir sind sehr glücklich mit Pedro.
    Ich möchte bald euch treffen,wenn du möchtest.
    ich habe dich auch in facebook gefunden. Du kannst de fotos von Pedro Schauen. Er ist so gross und so Hübsch.
    Mein Email ist carolinalima.s@hotmail.com
    Ich hoffe euch einmal wieder gesehen. Wir wohnen noch in Zürich.
    Schreiben mich ein email!wir konnen uns treffen!
    Ich kann nicht alles vestehen in dein blog, aber ich bin sehr glücklich calista und euch seid alles gute!
    Liebe Grüss,
    Carolina, Pedro e Martin

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  4. Liebe Iren,

    als ich mit Michel bei deiner Wohnung erstemal Calista gesehen habe, habe mir nicht vorstellen koennen, dass Calista solche schwere Oparation hinter sich hatte. Auf dieser Welt meisten Muetter haben so oder so von den Kindern schmerzen. Du bist stark und gute Mutter dazu besondere Schoenheits hast.
    Deine Alle drei toechter sind unheimlich schoen und die geben dir kraft zum Leben. Ich bin stolz auf dich durch all die Sachen bleibst als Du.
    Auch ein Gruss an Christian.
    Ich wuensche euch nur gutes!
    Liebe Gruesse.
    Min Joo

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